Was sind Living History und historische Interpretationen?

 von Ingo Glückler und Andreas Sturm

Im weitestgehenden Sinn ist living history1 alles das, was eine Verbindung der Gegenwart mit der Vergangenheit hervorruft; dazu gehören z.B. auch:

  • Kultivieren von Feldern mit längst vergessenen Pflanzen.
  • Singen von Liedern, die man von der Großmutter her kennt.
  • Nachstellen von Schlachten.
  • Mit Römersandalen durch die Alpen ziehen.
  • Sammeln von Oldtimern.
  • Nachkochen alter Rezepte, etc...

Warum Living History?

"History on the continent is dead, beautifully embalmed, but dead. [...] Open-air museums have well-researched, accurately identified buildings but with no depiction of daily life. Their farmsteads are the empty husks of peasant culture, colleted as curiosities, not as setting for the explication of social history."

G. Ellis Burcaw, Direktor des Institutes für Museum Studies, Universität Idaho

Living History in der Öffentlichkeit

Museen, historische Stätten und historische Veranstaltungen kommunizieren mit ihren Besuchern auf verschiedene Weise:

  • Sprache (z.B. Führungen)
  • Tafeln
  • Ausstellungsstücke
  • Multimediaprogramme
  • Sonderveranstaltungen
  • Broschüren/Flyer und Bücher
  • seit den letzten 30 Jahren durch living-history-interpretations2

Der Begriff living-history-interpretation schließt eine Reihe von grundlegenden Methoden ein, die in der Regel in einer Kombination auftreten3

  • first-person-interpretation
  • third-person-interpretation
  • Kinderprogramme
  • Musikprogramme
  • storytelling-Programme/Geschichtenerzählen
  • re-enactment

Absicht der vorgestellten Methoden ist die Wiederbelebung oder besser Simulation der vergangenen materiellen Kultur, Technologie und Verhaltensweisen. Auf Seiten des Veranstalters (Museum/living-history-Einrichtung) steht der pädagogische Aspekt im Vordergrund. Auf Seiten des Besuchers finden sich verschiedene Gründe für das Interesse an living history. Dabei lassen sich folgende Gründe isolieren:

  • Lehrer und Schüler wollen das in der Schule Vermittelte und Gelernte anhand praktischer Anschauung komplementieren.
  • Familien und Kinder suchen Entertainment/Unterhaltung und Bildung.
  • Gefallen an historischer Umgebung und Bausubstanz.
  • Suche nach authentischer emotionaler Erfahrung.
  • Eintauchen in die Vergangenheit.
  • Aus nostalgischen Gründen, purem Interesse oder nur um neue Erfahrungen zu sammeln.

Jede der genannten Methoden bedarf eines oder mehrerer interpreters4 (dt.: Dolmetscher). Freeman Tilden (1957) definiert den interpreter folgendermaßen:

"Eine oder mehrere Personen, die materielle Kultur und menschliche oder natürliche Phänomene für ein Publikum interaktiv in einer aussagekräftigen, provozierenden und interessanten Weise in einer historischen oder simulierten Umgebung übersetzen."

Gemeint ist also tatsächlich im gewissen Sinne ein Dolmetscher, allerdings nicht für eine Fremdsprache, sondern für die Vergangenheit, die in Schrift-Quellen, Plastik, Architektur und archäologischen Funden zu uns spricht.

Die Methoden der historischen Interpretation

 von Andreas Sturm

Historische Interpretationen  (zusammengefasst mit anderen Sparten unter dem Begriff heritage interpretation, deutsch auch Kulturinterpretation) sind keine Fortsetzung der Museumspädagogik mit aufwendiger Ausstattung. Die Techniken der Interpretation wurden seit Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem in den USA entwickelt und seitdem konsequent ausgebaut.

Der Grundgedanke einer jeden guten Interpretation ist nicht die Verbreitung von Informationen. Vielmehr forderte der Altmeister dieser Kunstform Freeman Tilden schon 1957, dass Interpretationen das Leben und den Geist der Besucher bereichern sollen. Die Weitergabe von Informationen ist dabei nur die Basis, mit deren Hilfe die Interpretation die Bedeutung und Beziehungen vergangener Ereignisse und Personen sowie deren Wirkung auf das gegenwärtige Leben der Zuschauer einer Interpreation enthüllt.

Schon daraus wird ersichtlich, dass Interpretationen nur von Fachleuten durchgeführt werden können, die mit den Grundlagen und den vielfältigen Techniken vertraut sind. Wir warnen an dieser Stelle ausdrücklich davor, nicht wegen äußerlicher Ähnlichkeiten das Tun von Re-enacmtent- und anderen Hobby-Gruppen, denen die Grundlagen der Interpretation meist gänzlich unbekannt sind, mit Interpretationen gleichzusetzen!

Rete Amicorum setzt bei der Arbeit mit Publikum verschiedene Techniken ein, die sich auf zwei Urformen zurückführen lassen:

Third-Person-Interpretation
Demonstration eines Gladiatorenkampfes im Römermuseum HalternDie third-person-interpretation ist die einfachste und von Rete Amicorum am häufigsten genutzte Form der Interaktion mit dem Besucher. Wir kleiden uns dabei in zeitgenössischer Kleidung, spielen aber keine Rolle.5 Wir beschreiben und demonstrieren unsere Fachgebiete auf eine solche Weise, dass ihre Bedeutung vom Publikum verstanden wird. Dabei beziehen wir uns auf die Vergangenheit im Bewußtsein, dass sie vergangen ist:

"Ich schreibe hier mit einem Gänsekiel auf Pergament, wie es z.B. Mönche im 13. Jahrhundert getan haben. Heute benutzt man dazu vielleicht einen Füller und Papier oder gar einen Computer."

Die Zuschauer haben Gelegenheit, uns Fragen zur Vorführung oder zum historischen Hintergrund zu stellen.

First-Person-Interpretation
In der first-person-interpretation wird eine Person aus der Vergangenheit durch schauspielerische Mittel wiederbelebt. Dabei behandelt der interpreter die Vergangenheit als Gegenwart. Als Grundlage dienen Primärquellen (Chroniken, Tagebücher, Briefe, Bilder, usw.). Die first-person-interpretation ist eine interaktive Kommunikationsform,6 bei der gewissermaßen Quellenmaterialien in eine szenische Darstellung umgesetzt werden.7

Die first-person-interpretation tritt in zwei Formen auf:

  • Fourth-wall-interpretation: Die first-person-interpretation erlaubt den Zuschauern nicht, den interpreter während seiner Darstellung zu befragen und/oder ihn zu unterbrechen (z.B. Museums-Theater, etc.).

  • Direkte Interaktion zwischen interpreter und Rezipient: Der interpreter ermutigt das Publikum, in einen Dialog mit ihm einzutreten und am Geschehen teilzunehmen (z.B. my time/your time-approach).

Alle unsere Displays bauen auf diesen grundlegenden Formen der living-history-interpretations oder ihren Mischformen auf. Zumeist beschränken wir uns dabei auf die third-person-interpretation, da sie einen engen Kontakt mit dem Publikum erlaubt. In speziellen Fällen greifen wir aber auch auf andere Kunstformen zurück.

In den Techniken der heritage interpretation spiegelt sich deutlich der Gedanke des infotainments wieder. Gerade deshalb bieten solche Displays eine willkommene Ergänzung zu den oft statischen Präsentationen eines Museums. Mit Blick auf die first-person-interpretaion ist es uns aber wichtig, dass die Unterhaltung gegenüber der Information nicht überhand nimmt. Der Schwerpunkt von living history in der Öffentlichkeit ist eindeutig der pädagogische Nutzen.

First- und third-person-interpretations liefern immer nur eine Teilwahrheit. Wir als interpreters achten deshalb darauf, dass diese Teilwahrheit für das Publikum nicht zur vermeintlich "ganzen Wahrheit" wird.

 Anmerkungen

1 In Nordamerika wird unter "living history", "re-enactment" und "recreation" dasselbe verstanden. Vgl. Gallup zurück

2 Engl.: interpretation: dt. eigentlich künstlerische Wiedergabe oder auch Erklärung eines schwierigen Sachverhalts. Hier im Sinne einer Übersetzung durch den interpreter/Dolmetscher zu verstehen. zurück

3 Alsford 9. zurück

4 vgl. Freeman Tilden, Gabriel Jerome Cherem 3-16. zurück

5 vgl. Robertshaw 31. zurück

6 In der Museumspädagogik wie auch in der Didaktik und der Kommunikationswissenschaft ist der Begriff der interaktiven Kommunikation niemals auf einen Dialog beschränkt. Auch eine bei anderen ausgelöste sekundäre Kommunikation ist immer interaktiv. Der Rezipient wird z.B. zum Nachdenken angeregt, ein Handlungsablauf eingeleitet und/oder verändert; er tritt in ein verbales Gespräch mit sich oder seinen Mitbetrachtern ein (Glückler 2000). zurück

7 First-person-interpretations dürfen nicht ohne weiteres mit dem aus der Fantasy bekannten  Rollenspiel-Verständnis gleichgesetzt werden. Der Rollenspiel-Charakter entwickelt sich über die verwendeten Quellen hinaus weiter und reagiert selbständig auf immer neue Spiel-Situationen - er führt gewissermaßen ein Eigenleben. Diese freie Entwicklung des Spiels und Charakters ist ein Merkmal des "Spaß"-Rollenspiels. Ein first-person-character bleibt dagegen auf den Inhalt der verwendeten Quellen beschränkt. Er ist deswegen in weiten Teilen mit einer Figur in einem Theaterstück vergleichbar, deren Handlungen sich mit jeder Aufführung wiederholen und immer zum selben Abschluß führen müssen. zurück

 Literatur

I. Glückler, Effektive Techniken der historischen Darstellung. Aufsatz (Heidelberg 2000).

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 © 2004 Sybille A. Beyer & Andreas Sturm GbR

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